Der Bücherwurm

Elisabeth Singh-Noack

Es fiel mir sofort ins Auge: angeknabberter Tesafilm an den Autobiographien, abgerissene Fäden, die an den Buchrücken der Reiseberichte hingen. Längst schon war hier eine Inspektion vonnöten. Mit einer Handbewegung fegte ich alle sichtbar beschädigten Bücher vom Regal, die schon im Fallen zu Staub zerfielen. Da erst sah ich die zusammenzuckende Praktikantin. Sie fragte: „Haben Sie Ihren Imbiss genommen?“ Ich nahm an, sie habe mir das halbe Brötchen und den lauwarmen Kaffee auf den Tisch in der Leseecke gestellt und fuhr sie an:

 

„Hier geht es nicht um kalten Kaffee und halbe Sachen, sondern um ein Mahl, das Ihre und noch viele andere Existenzen bedroht!“ „Ich habe schon vor zwei Wochen gemeint, dass hier etwas nicht stimmt. Jeden Tag habe ich mehr Staub weggewischt; ehrlich dachte ich schon an Holzwürmer, die alles von oben herunterrieseln lassen.“ „Aus den Metallstreben dieser hässlichen Dachkonstruktion? Dann haben Sie wohl in der Biologie noch unbekannte Metallwürmer entdeckt und verdächtigt.“ Sie wurde rot. „Wenn hier alles zu Staub zerfällt, an was denkt man denn dann zuerst?“, schob ich nach. „Daran, dass die Bücher zu alt sind und nicht gelesen werden!“ Hinter uns tauchte ein kleines, verschrumpeltes Männchen auf, sein Hemd bis zum Bauchnabel aufgeknöpft, obwohl es gar nicht heiß war. „Was mischen Sie sich denn ein. Nur weil die Bücher alt sind, müssen sie ja nicht gleich zerfallen!“ Das war die Praktikantin, wie ich sie mochte, rebellisch, schlagfertig, mir zur Seite springend, um gemeinsam an einem Strang zu ziehen! Sie schien schnell zu lernen und ich sah sie triumphierend an. Eigentlich war es das erste Mal, dass ich sie überhaupt richtig ansah: ihre Augen hätten nach diesem mutigen Einwand blitzen müssen, doch sie waren eher trüber Natur, sehr klein und saßen eng an der Nasenwurzel. Ihre gelbliche Haut wirkte weich und schlaff, ja sie erinnerte mich an...ich kam nicht drauf. Doch dann sickerte ganz langsam ein Wort aus meinem Gehirn auf meine Zunge: „Mehlwürmer...!“ Obwohl ich mich für recht robust hielt, krampfte sich mir mein Magen zusammen, denn eine schreckliche Ahnung, beschlich mich. Das runzlige Männchen hatte sich derweil der Belletristik zugewandt und strich mit seinem knorrigen Zeigefinger über den unteren Teil eines Buchrückens. Seine Hand reichte nicht bis ins oberste Regal. „Suchen Sie etwas Bestimmtes?“, fragte die Praktikantin. „Ja, holen Sie mir bitte diese zoologische Abhandlung herunter, dann zeige ich Ihnen, was ich meine. Und außerdem steht das hier falsch!“ Die Praktikantin reckte ihren Arm nach oben und für einen Bruchteil von Sekunden sah ich unter ihre Achsel. Ein feiner Staub lag darauf und ich meinte, etwas herunterrieseln zu sehen.

 

Vielleicht war es auch der Staub aus dem Regal, doch nahm ich nun auch einen feinen Belag auf ihren Kniekehlen, die unter ihrem Faltenrock sichtbar wurden, wahr. Das Männchen brach unter dem Gewicht der Enzyklopädie beinahe zusammen, schaffte es aber doch bis zur Leseecke.

 

„Es gibt verschiedene Arten von Würmern, wissen Sie? Und Mehlwürmer gehören nicht dazu; die besitzen nämlich Beine, Fühler und einen Chitinpanzer.“ „Ist Ihnen nicht gut? Sie sind ganz bleich!“, fragte mich die Praktikantin, die aussah wie ein Mehlwurm. Sie hatte Beine, einen guten Sensor für alles und trug meistens grau schimmernde, an Chitin erinnernde Kleidung. Diese Erkenntnis drückte mich mit Entsetzen fest in den Sessel. Das Männchen öffnete das schwere Buch auf der gesuchten Seite, ohne ins Inhaltsverzeichnis geschaut zu haben. Wie konnte er das wissen? Und woher wusste dieser Gnom, was ich gerade eben gedacht hatte? Kam er öfter hierher? Ich war der Leiter der Bücherei und wusste erstaunlich wenig über die Gegebenheiten.

 

„Hier lesen Sie, oder ich lese es Ihnen vor: „Die Vielzahl einheimischer Würmer übertrifft immer noch die Anzahl eingewanderter Arten. Fälschlicherweise werden oft auch Larven von Insekten als Würmer bezeichnet, ebenso der Mehlwurm, der zu den Insekten gehört. Es gibt unter anderem Faden-, Hufeisen-, Igel-, Kelch-, Kratz-, Platt-, Spritz-, Schnur-, Ringel-, Pfeil- und die sogenannten Eingeweidewürmer. „Mir ist schlecht“, konnte ich gerade noch hervorbringen und lief zur Tür, doch sie ließ sich nicht öffnen. Wankend hielt ich mich an einem Regal fest und übergab mich in die Atlanten.

 

„Jetzt warten Sie doch, ich bin noch nicht fertig! Das Wichtigste kommt noch.“ Da immer weniger Leute Mitgliedsausweise kauften, Bücher ausliehen oder auf unserem Flohmarkt welche kauften, hatte ich auf sanitäre Anlagen verzichtet und musste mich wohl oder übel wieder in die Leseecke setzen.

 

Der kleine Mann las ungerührt weiter: „Zu den einst sehr verbreiteten und nun fast ausgestorbenen Würmern gehört der Bücherwurm. Durch ihn wurde der individuelle und Weltgeist erfrischt, aufgewühlt, positiv verändert und zum Wachstum angeregt, ähnlich dem Regenwurm, der zu den Ringelwürmern gehört und noch gebietsweise unbelasteten Boden umwälzt und aufbereitet.

 

Einzelne Exemplare des Bücherwurms wurden hie und da gesichtet, doch ihre Existenz ist durch Digitalisierung, Automatisierung und eine generelle Abneigung gegen gewachsene Kultur, sowie einer Zunahme von Stauballergien stark bedroht.“

 

Die Praktikantin schnupfte aus und räusperte sich. „Ich kann hier nicht länger arbeiten, ich gehöre hier nicht hin.“ Also hatte ich doch Recht, mit ihr stimmte etwas nicht. Als ihr das Taschentuch entglitt, sah ich auch auf ihrem Kopf auszugsmehlartiges Puder. Der Alte blickte uns beide streng an: „Ihr bleibt hier und hört mir zu, wie ihr das Aussterben des Bücherwurms, der für die Weiterexistenz der gesamten Menschheit vonnöten ist, verhindern könnt.

 

Zumindest könnt ihr euren Beitrag dazu leisten. Und wenn ihr mir nicht glaubt, hier steht alles schwarz auf weiß, wissenschaftlich belegt.“ Betreten blieben wir sitzen und horchten. „Einwandfrei wurde festgestellt, dass Bücher, die länger nicht gelesen wurden, von einem mehlwurmartigen Gliedertier zerfressen und pulverisiert werden. Buch und Mensch und damit die ganze Zivilisation können nur gerettet werden, wenn Bücher wieder gelesen werden. Sobald sie herumstehen, zerfallen sie in immer kürzerer Zeit.“

 

Mir schwindelte, denn ich verstand die Zusammenhänge nur ansatzweise und fühlte dennoch eine sogar anwesende Bedrohung.

 

„Was kann ich denn oder was können wir nun ausrichten, um Schlimmeres zu verhindern?“ Als wäre es nicht schon schlimm genug in meiner eigenen Bücherei! Doch der Alte ließ keinen trübsinnigen Gedanken zu, sondern preschte voran: „Lest auf der Straße den Leuten vor, geht in Kinder-, Jugend-, Senioren-, Kranken- und Flüchtlingseinrichtungen, öffnet rund um die Uhr eure Läden und Bibliotheken, verschenkt Bücher, aber vor allem, hört selbst nicht auf zu lesen !“

 

Die Praktikantin stand auf und sah mich mit einer Mischung aus Hilflosigkeit und Feindseligkeit an. Sie stürzte auf das Fenster in der Kochbuchabteilung zu, begann in eigenartigen Kriechbewegungen, kraftlos hinaus zu robben und hinterließ eine feine Spur Mehl.

 

Siegreich blickte mich das Männchen an. „Nun sind Sie dran. Werden Sie zum Bücherwurm und machen Sie andere dazu! Retten Sie, was noch zu retten ist – Sie wollen doch, oder?“ „Natürlich“, rief ich etwas zu euphorisch, aber der Bücher willen würde ich die Welt retten!