Kant in der Badewanne

Gertrud Edelmann

Die Nachmittagssonne schien ihr ins Gesicht. Sie saß am Schreibtisch, vor ihr ein aufgeschlagenes Buch neben großem, unbeschriebenem, weißem Papier. Der Füller glitt an ihren Zähnen auf und nieder.

 

Etwas ist heute Nacht in mir vorgegangen, etwas ganz tief in mir … wenn ich mich nur erinnern könnte…. Die Zeit verging so schnell, ich kann mich an meine Gedanken nicht mehr erinnern. Aber es muss etwas in meinem Ich gewesen sein. Ich sitze doch nicht da und denke nichts! Man denkt immer etwas, man muss es sich nur bewusst machen und aus dem Inneren hervorholen, dann kommt man auch seiner eigenen wahren Identität näher, dann lernt man sich besser kennen, dann erkennt man das Konzept, das den eigenen Gedanken zugrunde liegt, und kann diese auch im Bewusstsein denkmodellartig als Lebensorganisationskonzept gebrauchen. Aber wir komme ich an dies Verborgene in mir heran?

 

Vielleicht muss ich erst einmal meine Denkfähigkeiten schulen, vielleicht muss ich erst einmal andere Denkmodelle kennen, um mein eigenes erkennen zu können. Durch besser geschultes Denken könnte ich sicher alle Gedanken, die jetzt geisterhaft, undeutlich, chaotisch und nicht greifbar in meinem Kopf herumirren, differenzieren, könnte dann besser erkennen und verstehen!

 

Langsam legte sie den Füller auf das weiße Papier.

 

Ich habe doch meinem Vater zum letzten Weihnachtsfest Kants „Kritik der reinen Vernunft“ geschenkt. Kant war doch ein weiser Philosoph, der wichtige Erkenntnisse hatte. Vielleicht kann ich davon profitieren und meine eigene Gedankenwelt mit Hilfe seiner Erkenntnisse anregen.

 

Sie stand auf, ging hinunter in das Arbeitszimmer ihres Vaters – zum Glück ist er nicht da, sonst würde er fragen, was ich mit dem Buch will – sie suchte das Bücherregal mit dem Zeigefinger ab, bis dieser stehen blieb. Da ist es ja. Es ist noch genauso neu wie an Weihnachten. Ich fange erst einmal mit Band 1 an.

 

Sie zog das Buch aus dem Regal, schob die daneben stehenden Bücher ein bisschen auseinander, sodass die Lücke auf dem Brett nicht mehr auf den ersten Blick zu erkennen war, und schlug mit Erwartung, noch vor dem Regal stehend, versunken, das Buch ehrfurchtsvoll auf.

 

Inhaltsverzeichnis…, weiter, was steht da? „Instauratio magna. Praefatio.“ Ach, das ist Lateinisch, scheußlich. Weiter!

Sie blätterte auf die nächste Seite: „SR. EXZELLENZ, DEM KÖNIGL. STAATSMINISTER FREIHERRN VON ZEDLITZ, Gnädiger Herr!... .“ Oh je, so altes Zeug, weiter, irgendwann muss es ja anfangen.

 

Sie blätterte weiter: „VORREDE. Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in eigener Gattung ihrer Erkenntnisse: … .“ Das ist schon interessanter. Wusste ich doch, dass er von Erkenntnissen spricht. „…dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.“

 

Was soll das denn heißen? Ich muss das noch einmal lesen. Naja, es ist klar, dass es kompliziert geschrieben ist, schließlich war er ein Philosoph – und sie las den Absatz noch einmal langsam und konzentriert: „…dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann…“

 

Ja, genau: Fragen! Fragen über Fragen! Das ist es, was mich interessiert… Aber belästigt? Waren sie für ihn eine Belästigung? Komisch. Ich finde das interessant. Auf Fragen sucht man Antworten und die Suche danach ist doch aufregend, insbesondere, wenn es sich um solch elementar wichtige Lebensfragen handelt – „…die sie aber auch nicht beantworten kann…“ – Wieso denn nicht beantworten? Ich denke, er hatte weltbewegende Erkenntnisse, die für das Leben unerlässlich sind? Naja. Nach einem Abschnitt kann man noch nicht viel sagen, ich muss das in aller Ruhe lesen.

 

Sie klappte das Buch mit einer leisen, schnippischen Bewegung zu, klemmte es unter die Achsel, ging in die Küche, kochte sich einen schwarzen Tee, nahm diesen, eine Tasse, Zuckerdose und Löffel auf einem Tablett und ging damit ins Bad. Sie schaltete das Gebläse des Ofens ein – Schön! Heiße Luft! -, stöpselte den Badewannenabfluss zu, träufelte genussvoll intensiv nach Fichtennadeln riechende, dunkelgrüne, sämig-zähe Flüssigkeit auf den Boden der Wanne, drehte den Hahn auf und stellte akribisch genau die richtige Temperatur des Wassers ein, das sich trommelnd auf das Emaille ergoss und sprudelnd weißlichen Schaum erzeugte. Den Badezimmerhocker zog sie samt dem darauf abgestellten Tablett dicht an den Badewannenrand, auf den sie ein Handtuch – für alle Fälle – fein säuberlich, nicht zu tief in die Wanne hineinreichend, hängte, damit es nicht nass würde, wenn der Schaum- und Wasserpegel gestiegen sein würde. Das noch immer unter den Achseln eingeklemmte Buch nahm sie, nachdem sie sich zuvor gründlich die Hände abgetrocknet hatte, und legte es mit Nachdruck ordentlich auf den Rand des Tabletts neben die Teekanne. Nun zog sie sich aus, tauchte den großen Zeh vorsichtig in den inzwischen hoch aufgebauschten Schaum, bis sie die Wärme des Wassers darin empfand. – Ein bisschen zu heiß, aber das ist am Anfang immer so, bis man sich an die Temperatur gewöhnt hat. Sie nahm das Thermometer, das an den Kacheln hing, und tauchte es tief unter den Schaum, schob durch kreisförmige Handbewegungen an dieser Stelle den Schaum langsam zur Seite, sodass der Blick auf das Wasser und das Thermometer frei wurde. 32˚C … 35 ˚C, die rote Flüssigkeit in dem Glasröhrchen kletterte langsam nach oben … 38˚C …, bis sie bei 41,5 ˚C zum Stillstand kam. – Ja, so ist es genau richtig. – Langsam und in Etappen ließ sie zuerst die Füße, dann die Beine und schließlich ihren ganzen Körper bedächtig durch das Weich des Schaumes hinein in das heiße, grüne Wasser gleiten. Ein langer, tiefer Wonneseufzer erfüllte das Badezimmer. Sie legte sich vorsichtig mit dem Rücken zurück, lehnte den Kopf an die Wand und schloss die Augen.

Als die ersten Schweißtropfen ihr auf die Stirn traten, war sie vollends zufrieden und stellte den Hahn ab. Fast bis zum Überlaufen war die Wanne gefüllt und der knisternde Schaum spielte an ihren Ohren. – Ein heißes Bad zu nehmen ist wie in eine andere Welt zu gehen. Der Körper wird völlig ausgelaugt und der Geist kann in höhere Sphären steigen.

 

Nach einigen Minuten setzte sie sich bedächtig aufrecht, hob die Hände aus dem Wasser empor, trocknete sie mit dem über den Badewannenrand hängenden Handtuch, das nun doch zur Hälfte nass geworden war, schenkte sich Tee ein, rührte genüsslich den Zucker mit lautem Geklapper des Löffels herum, schlürfte die Tasse, mit beiden Händen fest umschlossen, in tiefen Zügen, in kurzen Abständen immer wieder absetzend, leer. Der Schweiß rann ihr nun die Schläfen herab. Sie genoss es und ergriff das auf dem Tablett liegende Buch.

 

Also, jetzt noch einmal in Ruhe. Wie war das genau?

 

„VORREDE. Die menschliche Vernunft…“ – Ach, den ersten Abschnitt habe ich ja schon gelesen, wo geht es denn weiter? Da, zweiter Abschnitt… -

 

„In diese Verlegenheit gerät sie ohne Schuld. Sie fängt von Grundsätzen an, deren Gebrauch im Laufe der Erfahrung unvermeidlich und zugleich durch diese hinreichend bewährt ist.“ – Genau. Der Mann hat recht. Grundsätze. Das ist es, was man braucht. Aber welche? Und wie kommt man zu diesen? Mal sehen, weiterlesen!

 

„Mit diesen steigt sie (wie es auch ihre Natur mit sich bringt) immer höher, zu entfernteren Bedingungen.“ – Entferntere Bedingungen? Was meint er damit? … Wahrscheinlich meint er, dass es weit weg, also nicht leicht zu erfassen ist, … genau wie ich meine, nur eben anders formuliert, nämlich, dass ich es statt „entferntere Bedingung“ „verborgen tief in meinem Ich“ nenne. Naja, viel Neues scheint er da am Anfang nicht zu bringen. Es ist ja auch nur die Vorrede, wahrscheinlich ist das überall Gelaber. Am besten, ich komme gleich zur Sache – sie blätterte weiter, blätterte … - hört denn diese Vorrede nie auf? – und blätterte.- Da! Noch ein Inhaltsverzeichnis. Anscheinend geht es jetzt erst richtig los, weiter … .

 

„EINLEITUNG. 1. Von dem Unterschiede der reinen und empirischen Erkenntnis. Dass alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel.“ – Eigentlich stimmt das schon. Erst wenn man im Leben Erfahrungen gesammelt hat, kann man Gedanken erst richtig erkennen und ordnen, man kann Vergleiche ziehen zu verschiedenen Gedanken in verschiedenen Lebensituationen. Das jedoch kann man nur, wenn man schon verschiedene Lebenssituationen erlebt hat, also Erfahrungen gesammelt hat. Dann kann man daraus lernen, erkennen, Erkenntnisse haben. Naja, Erfahrungen habe ich ja schon zur Genüge gemacht. Die Voraussetzung ist also gegeben. – „…denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren und teils von selbst Vorstellungen bewirken, teils unsere Verstandestätigkeit in Bewegung bringen, diese zu vergleichen, sie zu verknüpfen oder zu trennen, und so den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der Gegenstände zu verarbeiten, die Erfahrung heißt?“ – Eben! Er spricht auch vom Vergleichen bestimmter Vorstellungen. Aber was will er mit den Gegenständen? Ich glaube, ich muss den Satz noch einmal lesen. „…denn wodurch sollte …“ – Wieso hält der sich an solch profanen Dingen wie Gegenständen fest? Ich denke, er ist ein weiser Philosoph? Wieso beschäftigt er sich nicht mit der komplizierten Welt der Gedanken und hebt stattdessen auf Gegenständliches, Materielles ab? Naja, es ist eben noch die Einleitung, wahrscheinlich dachte er, er muss bei Adam und Eva anfangen, damit man ihn dann auf den Seiten danach versteht. Wahrscheinlich ist es gar nicht nötig, dass ich die Einleitung lesen muss, ich will gleich in medias res gehen, mal weitersehen … - und sie blätterte viele Seiten weiter. – Da! Endlich fängt es richtig an!

 

Ein fast weißes Papier blickte sie an, auf dem stand: „KRITIK DER REINEN VERNUNFT. I. TRANSZENDENTALE ELEMENTARLEHRE.“ – Das klingt schon besser. - Sie schlug die nächste Seite auf und begann, die Überschrift diesmal gleich außer Acht lassend, sofort mit dem Text, den sie erwartungsvoll, ehrfürchtig las. „Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntnis … und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die Anschauung. …, dass er das Gemüt auf gewisse Weise affiziere --- Rezeptivität … Sinnlichkeit … Begriffe … heißt empirisch … heißt Erscheinung.“ Sie atmete tief durch. – Ganz schön schwierig der Text. Wenigstens bin ich hier völlig im Thema. Das spürt man gleich. Ich muss weiterlesen. Im Zusammenhang wird immer alles deutlicher. „In der Erscheinung nenne ich das, was der Empfindung korrespondiert, die Materie derselben, dasjenige aber … Materie aller Erscheinung nur a posteriori … im Gemüte a priori … im transzendentalen Verstande … a priori … reine Anschauung … Substanz, Kraft, Teilbarkeit etc. … Prinzipien der Sinnlichkeit a priori nenne ich die transzendentale Ästhetik … Elementarlehre … isolieren … empirische Anschauung … a priori … Raum und Zeit … werden.“

 

Da sind viele Fremdwörter drin! Da braucht man das Fremdwörterlexikon, um den Text zu lesen. Das geht aber jetzt nicht, sonst muss ich aus der Badewanne heraus. Welch ein Akt! – Sie stöhnte. – Mal sehen, wie es weitergeht – und sie las mit zusammengekniffenen Lippen und fast aufgerissenen Augen zwei Seiten lang weiter. Der Schweiß floss in Strömen über ihre Wangen, der Schaum im Wasser hatte sich bereits aufgelöst und sowohl das Badewasser als auch der Tee waren lauwarm geworden. Ihr Kopf schmerzte. An manchen Stellen hatte das Buch Wasserflecken bekommen, obwohl sie sich die ganze Zeit über bemüht hatte, das Buch keinesfalls nass werden zu lassen.

 

Sie klappte das Buch zu und legte es zurück auf das Tablett, ließ die Hände ins Wasser gleiten. Die Temperatur des Wassers war ihr unangenehm. Langsam ergriff sie die glitschige Seife und fing an, sich zu waschen. Jede Bewegung fiel ihr schwer. Müde spülte sie den Seifenschaum von ihrer Haut, trocknete sich mit dem halb nassen Handtuch den erhitzten Körper, zog den Stöpsel aus der Wanne, warf sich den Bademantel über, brachte das Tablett in die Küche und das Buch in das Arbeitszimmer ihres Vaters zurück, schlürfte die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer und ließ sich auf das Bett fallen. Sie fiel in einen schweren, traumlosen, matten Schlaf.